Radeln nach Berlin: Wir sprengen die Ketten des Gesundheitssystems!

Heiko Schneider setzt sich selbst in Bewegung, um Bewegung in die Politik zu bringen. Er fährt mit dem Fahrrad von Frankfurt nach Berlin, um im Deutschen Bundestag seinen Brandbrief und die vielen Briefe von Kollegen persönlich zu übergeben. Wir konnten den engagierten Physiotherapeuten, Initiator der Aktion “Therapeuten am Limit”, vorab sprechen.

Am 28. Mai 2018 geht es los: In acht Etappen hat Physiotherapeut Heiko Schneider die insgesamt 542 Kilometer seiner ganz persönlichen Protesttour aufgeteilt. Sein Ziel: Der Deutsche Bundestag. Dort wird er am 5. Juni nicht nur seinen eigenen Brandbrief übergeben, in dem er auf die schlechten Arbeitsbedingungen von Therapeuten und die mangelnde Patientenversorgung hinweist.

In seinen Satteltaschen hat er außerdem Hunderte von Zusendungen seiner Berufskolleginnen und -kollegen aus ganz Deutschland, die ihn bei seiner “Therapeuten-am-Limit-Tour 2018” unterstützen und ebenfalls über die Missstände ihres Berufsstandes klagen.

Heiko, die Aktion ist toll! Doch wie soll sich so schnell an den Rahmenbedingungen etwas ändern? Hast Du konkret ein realistisches Ziel vor Augen?

Ja. Die Angleichung an die tarifvertraglich bezahlten Therapeuten muss umgehend erfolgen, nicht in mehreren Schritten. 30 Prozent in drei Jahren - undenkbar! Das würde das Praxen-Sterben, das schon eingesetzt hat, nicht aufhalten. Alle Heilmittelerbringer arbeiten auf einem derart niedrigen Gehaltsniveau, dass wir dem Untergang geweiht sind, wenn nichts passiert. Ich habe hunderte von Briefen von Ergotherapeuten, Logopäden und Physiotherapeuten und ich kann Dir sagen, ihre Geschichten und die Situationen in den Praxen ähneln sich.

Anzeichen dafür, dass es bei den Therapeuten krankt, gibt es aber schon länger?

Definitiv ja! Was mir Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet berichten, hat beispielsweise bei mir bereits vor drei Jahren angefangen. Damals ging es los, dass in meiner Praxis bereits der Fachkräftemangel spürbar war, der natürlich mit der schlechten Vergütung der Physiotherapeuten zu tun hat. Die Ärzte haben außerdem die Verordnungen auf Druck der Krankenkassen weiter eingeschränkt. Teurere Therapie-Formen wurden einfach gestrichen. Nur ein Beispiel: Krankengymnastik am Gerät ist eine Therapieform, die langfristig sehr erfolgreich ist. Deshalb wurde sie früher oft verordnet. Ich hatte mich darauf eingestellt und die Geräte angeschafft. Jetzt heißt es “zu teuer”, kein Arzt verordnet mehr Krankengymnastik am Gerät. Ergo: Die Geräte stehen still, die Anschaffungskosten laufen aber weiter.

Das heißt, die Praxen sind voll, können aber nicht wirtschaftlich arbeiten?

Genau. In meinem Terminkalender ist keine Lücke, ich mache sogar zahlreiche Überstunden. Seit acht Jahren stehe ich täglich zehn Stunden an der Bank. Und trotzdem habe ich selbst in dieser Zeit sogar weniger verdient als meine Rezeptionskraft. Von meinem Gehalt gehen ja auch noch die prívate Krankenversicherung und die Rente ab. Aber die Entwicklungen im Gesundheitswesen sind insgesamt ungesund, nicht nur in ökonomischer Hinsicht.

Also bemerken auch die Patienten die Veränderungen?

Sicherlich. Die Patienten sind unterversorgt. Sie müssen bei den Ärzten um Rezepte betteln und hören, das Budget sei ausgereizt. Es ist alles in allem eine tödliche Kombination, die uns alle treffen wird. Ein Dominoeffekt mit ungeahnten Ausmaßen.

Was meinst Du konkret mit ungeahnten Ausmaßen?

Die Briefe aus ganz Deutschland zeigen deutlich zwei Dinge: Es setzt eine Abwanderung in Fremdberufe ein, die eine flächendeckende Insolvenzwelle in den Praxen auslöst. Wie sehr das Thema schlechte Vergütung uns alle bewegt, ist in einem Interview mit Jörg Stanko auf dem “pt-Magazin” nachzulesen.

Wie entstand die Idee zu “Therapeuten am Limit” und dem Brandbrief?

Bei mir kamen viele Dinge zusammen, die mich im März dazu bewogen haben, den Brandbrief zu schreiben. Das alles war ein langer Prozess, der in mir abgelaufen ist. Erst unterschwellig, dann wurde der Druck größer und größer. Ich musste mich davon befreien. Denn irgendwann war mir klar, so mache ich nicht mehr weiter, sonst schließe ich meine Praxis. All die Wut, die Verzweiflung, den Druck schaffte ich zu kanalisieren und ließ die freigewordene Energie in meinen Brandbrief fließen. Wohl wissend, dass ich ihn nur für mich schreibe. Meinen ganz persönlichen Befreiuungsschlag in Schriftform.

Du hast also gar nicht damit gerechnet, dass das Interesse an Deinem Brandbrief so groß ist und Du derartig viel Zustimmung und Unterstützung erfährst?

Nein, das hat mich völlig überrollt. Ich habe den Brandbrief veröffentlicht und binnen 24 Stunden kamen so viele Briefe von Kollegen, denen es ähnlich geht, dass ich gemeinsam mit Jens Ulhorn und Volker Brünger “Therapeuten am Limit” ins Leben gerufen habe. Inzwischen sind wir zu Fünft im Team, unterstützen uns mit Rat und Tat, bei der Arbeit und Recherche. Obwohl wir uns vorher teilweise gar nicht kannten, funktionieren wir mittlerweile wie die kleinsten Rädchen in einem Uhrwerk. Doch selbst mit dieser großartigen Unterstützung sind die Tage vor der Tour prall gefüllt, von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr. Und dazwischen behandle ich noch zehn Stunden meine Patienten.

Fünf Mann, eine Vision?

Uns ist klar: Wir müssen die Ketten sprengen, die das Gesundheitssystem um uns gelegt hat. Wir Deutschen sind leidensfähig, manchmal auch schwerfällig und brauchen lange, bis wir uns bewegen. Aber wir fünf alleine schaffen das nicht. Hier muss auf breiter Basis von Therapeuten und Patienten Druck kommen, sonst passiert nichts. Wenn von der Basis kein Druck kommt, passiert nichts. Die Politik braucht Futter. Das kriegt sie nur, wenn wir alle laut werden und uns beschweren. Wir Deutschen haben das noch nicht begriffen. Auch mir selbst ist es erst durch den Brandbrief und die unglaublichen Reaktionen darauf bewußt geworden. Da ist eine gewaltige Energie frei geworden, ich bin überwältigt von der Resonanz.

Noch rollst Du nicht, doch vieles ist schon ins Rollen gekommen?

Ja, mittlerweile sind sogar die großen Berufsverbände mit an Bord. Und wir konnten mit Politikern und Vertretern von Krankenkassen im Vorfeld Gespräche vereinbaren, in denen wir auf die schlechten Arbeitsbedingungen, die miserable Vergütung und die mangelnde Versorgung der Patienten hinweisen werden. Endlich dringt die Misere mehr und mehr ins Bewußtsein. Und das ist die entscheidende Voraussetzung für eine Veränderung. Wir sind guten Mutes.

Wer Heiko Schneider auf seiner Protesttour begleiten möchte, kann sich etappenweise mit dem Rad anschließen. Alternativ gibt es die Chance, Tag für Tag per Live-Ticker auf der Plattform “Therapeuten am Limit” alle News zu verfolgen. Auch wir werden in unserem Blog bei Bunz mobile Physio weiter darüber berichten.

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